Am Anfang nur ein Funken, am Ende eine Bewegung: Feminismus trifft Behinderung

Feminismus trifft Behinderung – Paneldiskussion. Die Empfehlungen des UN-Fachausschusses zur Behindertenrechtskonvention

In kaum einem Dokument kommt die Bundesrepublik Deutschland so schlecht weg wie in den „Concluding Observations“ des UN-Fachausschusses zur Behindertenrechtskonvention. In fast allen Bereichen, die die Konvention umfasst, sind die Richtlinien mangelhaft umgesetzt. Inklusive Bildung, Gesundheit, Zugang zu kulturellen Angeboten oder Gewaltschutz – die Mängelliste ist fast endlos lang. (Informationen auf der Seite des Deutschen Instituts für Menschenrechte)

Welche Missstände es gibt und was getan werden muss, um sie zu beseitigen, diskutierte ein Expertinnen-Panel, moderiert von Dr. Sigrid Arnade, Geschäftsführerin der Initiative Selbstbestimmt Leben (ISL). Arnade war an der Erarbeitung der UN-Menschenrechtskonvention für Menschen mit Behinderung beteiligt, kennt sich also bestens im Themenfeld aus.

Mit ihr diskutierten, ebenfalls gut vorbereitet und hochkonzentriert:

  • Prof. Dr. Swantje Köbsell, Alice Salomon Hochschule Berlin
  • Britta Leisering, Institut für Menschenrechte
  • Rebecca Maskos, Journalistin und Autorin
  • Judy Gummich, Diversity Trainerin

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Dass das Thema Behinderung einen zentralen Platz auf einer feministischen Tagung verdient hat, war eindeutig: Die Veranstaltung war – für die Diskutantinnen überraschend – sehr gut besucht. Und Köbsell stellte in ihrem Eingangsvortrag auch deutlich heraus, welche Verbindungen zwischen Ableism und Sexismus, zwischen Frauen*bewegungen und Behindertenbewegungen zu ziehen sind.

Ebenso wie die Gender Studies von „sex“ als biologischer, „gender“ als sozialer Kategorie sprechen, wird in den Disability Studies eine Unterscheidung zwischen „Beeinträchtigung“ als körperlicher Eigenschaft und „Behinderung“ als gesellschaftlicher Konstruktion und Zuschreibung gesprochen. Nicht zuletzt deshalb sprechen sich später die Panelistinnen für den Begriff „behinderte Frauen*“ statt „Frauen mit Behinderung“ aus – schließlich werden Frauen* behindert, sie besitzen keine Behinderung.

Köbsell zeichnet die historischen Kämpfe nach, zeigt auf, wie lange behinderte Frauen* von der Frauen*bewegung nicht mitgedacht wurden, wie lange auch die Behindertenbewegung von männlicher Dominanz geprägt war. Das „Geburtsdatum“ der feministischen Behindertenbewegung sieht sie im Jahr 1980, als erstmals Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen gemeinsam für ihre Rechte auf die Straße gingen.

Feminismus trifft Behinderung Panel 1

Ihr historischer Abriss informiert nicht nur über die Entwicklung der Bewegung, sondern auch über gesetzliche Regelungen, die erst durch öffentlichen Druck und Protestkampagnen erreicht werden konnten. So ist es der Arbeit von Selbstorganisationen zu verdanken, dass es in Bundes- und Landesgleichstellungsgesetzen überhaupt Passus zu Rechten von behinderten Frauen* gibt.

Die Diskussion konzentriert sich vor allem auf das Thema Gewalt, denn die ist das zentrale Thema in den „Concluding Observations“. Zu diesem Thema muss die Bundesrepublik innerhalb eines Jahres konkrete Verbesserungsvorschläge machen. Sehr sinnvoll, denn behinderte Frauen* sind Gewalt in besonderem Maße ausgesetzt. Und das hängt auch mit staatlichen Strukturen und Lücken zusammen: Weder gibt es eine bundesweite Gewaltschutzstrategie oder eine Überwachungsstelle, an die sich Betroffene wenden könnten, noch etwa flächendeckend Frauenbeauftragte in Werkstätten für Menschen mit Lernschwierigkeiten.

Die Journalistin Rebecca Maskos zählt die gruseligen Zahlen einer weltweiten Haushaltsbefragung auf.

Rebecca Maskos

Demnach hat die Hälfte aller behinderten Frauen* sexualisierte Gewalt erlebt, 60-70 Prozent körperliche und ganze 90 Prozent psychische Gewalt – also etwa Beleidigungen, Einschüchterungen und Mobbing. Täter_innen sind – wie bei anderen Frauen* auch – meist Angehörige, aber eben auch Mitarbeitende in Wohneinrichtungen oder Werkstätten.

Judy Gummich weist das Fehlen eines mehrdimensionalen Blicks hin: Frauen* mit Rassismuserfahrungen würden bisher kaum gesondert erfasst – und auch Selbstorganisationen von Schwarzen Frauen* und Migrant_innen bezögen das Feld Behinderung kaum in ihre Arbeit ein.

Britta Leisering zufolge zeigen die Empfehlungen einerseits, dass in Genf sehr genau hingesehen wird – andererseits aber, wie weit Deutschland noch davon entfernt ist, die Konvention ernstzunehmen: Es gebe nicht einmal genug belastbare Zahlen zur Mehrfachdiskriminierung, um überhaupt sinnvolle Studien erstellen zu können.

Die Expertinnen, und das ist auch der großartigen Moderation von Sigrid Arnade zu verdanken, stellen jedoch genug Ansätze zur Veränderung vor, um Mut zum Handeln, Mut zur Vernetzung zu machen.

Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es, um der Mehrfachdiskriminierung von behinderten Frauen endlich gezielt entgegenzutreten? Welche ersten Schritte werden schon gegangen? Dazu sammeln Podiumsgäste und Publikum zum Schluss Ideen.

  • Rebecca Maskos berichtet von ihrer Mitarbeit in einem Projekt, das in Werkstätten beschäftigte Frauen* empowert und zu Ansprechpartnerinnen für andere Frauen* ausbildet – denn behinderte Frauen durchliefen sehr häufig eine „Sozialisation zur Fügsamkeit“ anstatt NEIN-sagen zu lernen,
  • Eine Verordnung zur Installierung von Frauenbeauftragen in allen Werkstätten ist ihr zufolge in Planung
  • Weiter empfiehlt sie die Schulung von Mitarbeitenden in Einrichtungen, von Lehrpersonen, Ärzt_innen und von behinderten Frauen* selber
  • Rechtsansprüche auf Weiterbildung, eigene Wahl des Pflegepersonals etc. müssen vom Kostenvorbehalt gelöst werden
  • Judy Gummich berichtet, dass die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) das Thema aufgegriffen habe und wird Workshops zur eigenen Sensibilisierung organisieren
  • Britta Leisering spricht von der großen Chance, die sich aktuell biete: Denn der aktuelle Bericht der Bundesregierung werde gerade in Genf überprüft. Genau jetzt hat die Zivilgesellschaft also die Gelegenheit, Kritik anzubringen und konkrete Verbesserungsvorschläge im Schattenbericht anzubringen. Bis 2019 ist dazu Zeit.
  • Sie verweist auch auf die Lage von geflüchteten behinderten Frauen*: Sie haben keinen Anspruch auf Hilfsmittel oder präventive Leistungen etwa bei chronischen Krankheiten.
  • Ein positives Beispiel nennt dazu Swantje Köbsell: In Bremen und Hamburg erhalten Geflüchtete eine Gesundheitskarte statt bei jeder Erkrankung einen Schein beantragen zu müssen.
  • Aus dem Publikum kommt hier die Idee, einen offenen Brief an Ministerien und weitere Stellen zu schreiben und in Aufnahmelagern Druck auszuüben
  • bestehende Vereine, die keine gesicherte Weiterfinanzierhung haben (wie etwa Menschenkind und das Zentrum für selbstbestimmtes Leben) können finanziell unterstützt werden
  • Begegnungsmöglichkeiten von Menschen mit und ohne Behinderungen – wie die heutige Podiumsdiskussion – können geschaffen werden, um Berührungsängste abzubauen
  • Swantje Köbsell nennt das Beispiel der ASH, die  im Stadtteil Hellersdorf mit behinderteen Geflüchteten arbeiten wird und appelliert an die Wissenschaft, das Thema Behinderung intersektionaler zu betrachten
  • Sigrid Arnade plant, einen Spendenpool an Hilfsmitteln aufzubauen.

Feminismus trifft Behinderung Publikum

Alle Beteiligten ziehen ein sehr positives Resümee aus der Veranstaltung:

Auch wenn noch viel zu tun ist, scheint das Thema Behinderung mehr in den Fokus zu treten. Und vielleicht, so resümiert Leisering, ist heute der erste Funke zu einer neuen Bewegung übergesprungen – einer Bewegung, die die unterschiedlichen Machtverhältnisse Ableism, Sexismus, Rassismus, Heterosexismus nicht nur additiv, sondern intersektional in den Blick nimmt, ergänzt Judy Gummich.